Überlebensschuld-Syndrom

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 12. März 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Menschen mit Überlebensschuld-Syndrom haben eine Extremsituation durchgemacht und überlebt. Sie empfinden Schuld gegenüber denen, die gestorben sind. Besonders häufig ist die Variante der posttraumatischen Belastungsstörung im Rahmen von Kriegen oder Naturkatastrophen zu beobachten.

Inhaltsverzeichnis

Was ist das Überlebensschuld-Syndrom?

Im Zentrum des Syndroms steht die zermürbende Schuld, die die Patienten wegen ihres Überlebens empfinden. Das zentrale Symptom der Schuldgefühle ist mit weiteren Symptomen vergesellschaftet, die unterschiedlicher Art sein können.
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Extrembelastungen ebnen psychischen Erkrankungen den Weg. Vor allem die posttraumatische Belastungsstörung ist in diesem Zusammenhang bekannt. Von dieser anhaltenden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung existieren unterschiedliche Varianten. Eine davon ist das Überlebensschuld-Syndrom. Die psychische Erkrankung ist auch als KZ-Syndrom oder Holocaust-Syndrom bekannt.

Die Patienten haben meist einen Unfall, eine Naturkatastrophe, eine Epidemie oder Krieg, Völkermord und Lagerhaft am eigenen Leib erfahren. Gerade weil die Betroffenen die Extremsituation überlebt haben, werden sie in Anbetracht der Gestorbenen von Schuldgefühlen gequält. Personen sind um die betroffene Person herum zu Tode gekommen, ohne dass sie ihnen hätte helfen können.

Der Begriff Überlebensschuld-Syndrom oder Survivor-Guilt-Syndrom wurde in den 60ern vom deutsch-amerikanischen Psychiater William G. Niederland eingeführt, der die Schuldgefühle von KZ-Opfern mit der Bezeichnung beschrieb. Der Grundzusammenhang war innerhalb der Psychologie schon vor Niederlands Beschreibung bekannt. Allerdings existierte bis zu seinen Ansätzen kein eigenständiger Begriff dafür. Niederland beschrieb die Überlebensschuld als zentralen Zusammenhang für sämtliche Überlebenden einer vom Sterben bestimmten Extremsituation.

Ursachen

Die primäre Ursache für das Überlebensschuld-Syndrom ist eine Extremsituation, bei der andere Menschen umgekommen sind. Besonders in Kriegen und im Rahmen von Naturkatastrophen trifft dieser Zusammenhang zu. Das Überlebensschuld-Syndrom muss allerdings nicht zwingend in einem derart umfangreichen Rahmen eintreten. Auch kleinere Rahmen sind denkbar.

So kann beispielsweise auch der Tod eines Nahestehenden das Überlebensschuld-Syndrom auslösen. Stirbt ein Ehepartner zum Beispiel an einer schweren Erkrankung, erkrankt der zurückgebliebene Partner möglicherweise ebenfalls am Überlebensschuld-Syndrom. Im Regelfall tritt das Syndrom allerdings dann ein, wenn viele Menschen im direkten Umfeld der Betroffenen unter deren Augen zu Tode gekommen sind.

Der Patient erkennt den Ausnahmefall des eigenen Überlebens und empfindet sein Überleben in diesem Zusammenhang als „unverdient“. Wegen des unverdienten Überlebens unter Tausenden fühlt der Betroffene eine quälende Schuld gegenüber derer, die gestorben sind und denen er nicht helfen konnte.

Menschen mit Überlebensschuld haben ein Leben in ständiger Bedrohung zugebracht. Besonders oft ist eine gesichtslose Bedrohung allgegenwärtig. Im Zusammenhang mit den Holocaust-Überlebenden trugen außerdem öffentliche und persönliche Verdächtigungen und Anschuldigungen ohne die Möglichkeit zur Zuhilfenahme des behördlichen Rechtsschutzes zu den Ursachen des Syndroms bei.

Symptome, Beschwerden & Anzeichen

Wie jedes Syndrom setzt sich auch das Überlebensschuld-Syndrom aus unterschiedlichen Symptomen zusammen. Im Zentrum des Syndroms steht die zermürbende Schuld, die die Patienten wegen ihres Überlebens empfinden. Das zentrale Symptom der Schuldgefühle ist mit weiteren Symptomen vergesellschaftet, die unterschiedlicher Art sein können.

Viele Patienten mit Überlebensschuld-Syndrom leiden begleitsymptomatisch zum Beispiel an Depressionen. Oft sind sie ohnmächtig oder gar apathisch. Die Apathie kann sich ausschließlich auf den seelischen Bereich, unter Umständen aber auch auf den körperlichen Bereich beziehen. Gefühle der Unsicherheit sind ein ebenso häufiges Symptom. Vor allem in ihrem Umgang mit der Welt fühlen sich die Betroffenen oft verunsichert.

Diese Verunsicherung leitet häufig einen sozialen Rückzug ein, der sich auf alle Bereiche des Lebens erstrecken kann. Die psychische Situation der Patienten begünstigt wiederum psychosomatische Krankheiten. Darüber hinaus fühlen die Betroffenen oft Zustände der Angst oder Erregung, die eine andauernde Schlaflosigkeit begünstigen. Auf Basis der inneren Unruhe kann sich eine Wahnsymptomatik entwickeln.

Diagnose & Krankheitsverlauf

Die Diagnose des Überlebensschuld-Syndroms wird in der Regel nach ICD-10 gestellt. Die Belastungssituation und das zentrale Symptom der Schuld sind die wichtigsten Diagnosekriterien.

Komplikationen

Menschen, die unter dem Überlebensschuld-Syndrom leiden, entwickeln häufig psychische Erkrankungen und leiden bisweilen auch unter psychosomatischen Beschwerden. Viele Betroffene werden beispielsweise depressiv oder gefühllos. Eine Apathie kann Stresserkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems wie Herzinsuffizienz, Bluthochdruck oder Organschäden begünstigen.

Auch Erkrankungen der Schilddrüse sowie verschiedene Infektionskrankheiten wie zum Beispiel Tuberkulose oder Chlamydien können auftreten. Ebenso Erkrankungen des Nervensystems wie Neurosen, Depressionen oder Myasthenia gravis. Eine Apathie kann außerdem eine Anämie mit Schwindel und Abgeschlagenheit hervorrufen. Das Überlebensschuld-Syndrom ruft bei den Betroffenen oft auch eine starke Unsicherheit im Umgang mit anderen Menschen hervor, die in einem sozialen Rückzug mündet.

Die Lebensqualität und das Wohlbefinden sind bei einem diagnostizierten Überlebensschuld-Syndrom stark reduziert. Schlafstörungen, Ängste und Panikattacken tragen zu einer eher negativen Allgemeinprognose bei. Eine Behandlung kann die Beschwerden reduzieren, ist aber ebenfalls mit Risiken verbunden.

Eine medikamentöse Therapie kann zu Neben- und Wechselwirkungen führen und, ähnlich wie die Psychotherapie, eine vorübergehende Verschlechterung der psychischen Gesundheit hervorrufen. Langfristig kann eine umfassende Therapie die Symptome des Syndroms reduzieren und weitere Komplikationen weitestgehend verhindern. Rückfälle sind bei schweren psychischen Leiden jedoch immer möglich.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

Viele Menschen, die einen Unfall oder eine andere schicksalhafte Situation überlebt haben, erleben Zustände der emotionalen Belastung und Überforderung. Grundsätzlich sollte für eine bessere Verarbeitung der Erlebnisse die Zusammenarbeit mit einem Therapeuten oder Arzt gesucht werden. Sinkt die Lebensfreude oder kommt es zu Gefühlen der Schuld, benötigt er Hilfe und Unterstützung.

Besonders schwierig sind Situationen, in denen das eigene Überleben stattfindet, jedoch Angehörige oder Freunde den Tod gefunden haben. Die Bewältigung eines solchen Ereignisses sollte mit einem erfahrenen Therapeuten stattfinden. Kommt es zu depressiven Zuständen, Stimmungsschwankungen, einem Rückzugsverhalten oder einem aggressiven Auftreten, benötigt der Betroffene Hilfe. Bei Veränderungen der Persönlichkeit oder einem auffälligen Verhalten ist die Rücksprache mit einem Arzt notwendig.

Kommt es zu vegetativen Störungen, diffusen Schmerzen, einem Krankheitsgefühl, einer inneren Schwäche oder einem Gefühl der Leere, sollte ein Arzt konsultiert werden. Wird die Nahrungsaufnahme verweigert, zeigt sich optisch ein Abbau der körperlichen Kräfte oder kommt es zu einem starken Gewichtsverlust, besteht Anlass zur Besorgnis. Können die alltäglichen Verpflichtungen nicht mehr erfüllt werden, wird keine Freude mehr empfunden oder ist das Wohlbefinden stark herabgesetzt, ist ein Arzt aufzusuchen.

Behandlung & Therapie

Die Behandlung von Menschen mit Überlebensschuld-Syndrom erfolgt im Rahmen einer Psychotherapie. Oft findet gleichzeitig eine medikamentöse Therapie statt. Für Menschen mit Überlebensschuld-Syndrom ist das Erinnern der Ereignisse in der Regel in höchstem Maß belastend. Das stellt den Psychotherapeuten vor eine Herausforderung.

Viele Patienten sind sogar gänzlich unfähig dazu, sich an die Ereignisse zu erinnern. Solange sich Betroffene noch immer in einer traumatisierenden Situation befinden, ist eine Behandlung der Traumafolge-Störung nicht möglich. Wichtig ist die Aufklärung des Patienten. Bei einer Psychoedukation muss der Betroffene ein Verständnis für die Schwierigkeiten seiner eigenen Symptome entwickeln und die Ursache der Symptome erkennen.

Den meisten Patienten wird anfangs eine teilstationäre Behandlung empfohlen. Das gilt besonders dann, wenn die Störung wichtiger Alltagsfunktionen beeinträchtigt. Stationäre Behandlung ist bei besonders starken Panikreaktionen zur Stabilisierung des Betroffenen angezeigt. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie nach behavioralem Modell von Kozak und Foa oder kognitiv-behavioralem Modell von Clark und Ehlers findet eine direkte Konfrontation mit dem Trauma statt.

Das geschützte Erinnern der traumatischen Situation soll dem Patienten die Schuld nehmen. Im metakognitiven Modell wird der posttraumatische Denkstil und seine metakognitiven Überzeugungen verändert. Die Überzeugungen des Patienten werden mittels Detached Mindfulness oder ähnlichen Praktiken beeinflusst. Das Eye Movement Desensitization and Reprocessing will dagegen auf eine Integration der traumatischen Situation hinaus.

Diese Integration wird durch das gezielte Erinnern und den Wechsel der Blickrichtung initiiert. Psychodynamische Verfahren haben ein ähnliches Ziel und schaffen dem Patienten zum Beispiel eine Rückzugsmöglichkeit an einen inneren Ort der Sicherheit, wenn ihre Emotionen zu stark werden. Medikamentöse Therapien hängen von den Symptomen im Einzelfall ab. Möglich ist die Gabe von Paroxetin, Mirtazapin oder Amitriptylin.


Vorbeugung

Dem Überlebensschuld-Syndrom lässt sich kaum gezielt vorbeugen, da die ursächlichen Situationen in der Regel unausweichlich und nicht beeinflussbar sind.

Das können Sie selbst tun

Der soziale Rückhalt durch Freunde und Familie kann das Überlebensschuld-Syndrom positiv beeinflussen. Infolge des Syndroms haben einige Betroffene das Gefühl, das Leben nicht mehr verdient zu haben. Es kann jedoch hilfreich sein, trotz dieses Gefühls bewusst schöne Momente zu erleben und sich selbst etwas zu gönnen.

Manche Menschen, die unter dem Überlebensschuld-Syndrom leiden, schöpfen aus sinnvollen Beschäftigungen Kraft, zum Beispiel aus einem Ehrenamt oder einem Informationsprojekt, das mit dem traumatisierenden Ereignis zusammenhängt. Dabei ist es von Mensch zu Mensch jedoch sehr unterschiedlich, ob solche Tätigkeiten als Ablenkung und Erfüllung empfunden werden oder ob sie eine zusätzliche Belastung darstellen. Das Engagement darf nicht als Buße betrachtet werden, da diese Sichtweise für die Genesung hinderlich sein kann. Im Zweifelsfall sollten Betroffene mit einem Therapeuten gemeinsam überlegen, was sie neben der Therapie selbst tun können.

Da es sich bei dem Überlebensschuld-Syndrom um eine Form der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) handelt, können Selbsthilfe-Methoden genutzt werden, die bei dieser Störung aussichtsreich sind. Eine Reihe von Studien fand Hinweise darauf, dass Achtsamkeit dabei helfen kann, die PTBS-Symptome zu reduzieren. Achtsamkeit basiert auf buddhistischen Meditationen. Bei der Durchführung werden körperliche Empfindungen, Gedanken und Gefühle wahrgenommen, ohne sie zu bewerten. Um keine Retraumatisierung zu verursachen, kann es jedoch sinnvoll sein, sich auf Atemmeditationen und andere klar eingegrenzte Übungen zu beschränken. Zahlreiche Anleitungen dafür finden sich in Büchern und im Internet.

Quellen

  • Möller, H.-J., Laux, G., Deister, A.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Thieme, Stuttgart 2015
  • Payk, T., Brüne, M.: Checkliste Psychiatrie und Psychotherapie. Thieme, Stuttgart 2013
  • Schneider, F.: Facharztwissen Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Berlin 2012

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