Differenzierungsfähigkeit

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 28. Februar 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Unter kinästhetischer Differenzierungsfähigkeit versteht die Fachsprache die Fähigkeit des Menschen, einen Bewegungsablauf mit Hinblick auf seine Qualität zu beurteilen und entsprechend zu dosieren.

Diese Fähigkeit versetzt den Menschen in die Lage, seine Bewegungen ökonomisch, sicher und genau (differenziert) durchzuführen und an die vorliegende Situation anzupassen.

Ziel ist eine qualitativ hochwertige Bewegungsleistung, die mit zunehmender Qualitätsverbesserung immer feiner koordiniert ausfällt und somit eine angemessene Kraftdosierung und Zielanpassung ermöglicht.

Inhaltsverzeichnis

Was ist die Differenzierungsfähigkeit?

Differenzierungsfähig bedeutet, dass der Mensch in der Lage ist, motorische Fähigkeiten situativ auf Grundlage eines dauernden Informationsaustauschs über die augenblickliche Bewegungsposition zu steuern.

Die Differenzierungsfähigkeit eines Menschen beruht auf kinästhetischen Informationen, die den unbewussten, aber geordneten Bewegungssinn des Menschen mittels des zuständigen Gehirnareals steuert. Das Wort Kinästhetik geht zurück auf die altgriechischen Begriffe kineō (bewegen) und aisthēsis (Erfahrung, Wahrnehmung).

Eine gut entwickelte Koordinationsfähigkeit ist eine entscheidende Voraussetzung für die Gleichgewichts- und Rhythmusfähigkeit, die die eintreffenden Sinnesinformationen differenziert auf Wichtiges überprüft, diese Information an das zuständige Gehirnareal weiterleitet und nach Umsetzung die Bewegungsabläufe dosiert darauf abstimmt.

Der Mensch ist in der Lage, motorische Fähigkeiten situativ auf Grundlage eines dauernden Informationsaustauschs über die augenblickliche Bewegungsposition zu steuern. Beispiele für diese Differenzierungsfähigkeit sind verschiedene Bewegungsabläufe wie das Fangen eines Balles, Klatschen, Tanzen oder das Jonglieren mit Gegenständen.

Funktion & Aufgabe

Die Differenzierungsfähigkeit ist eine der wichtigsten koordinativen Fähigkeiten. Sie funktioniert nur in einem ausgeglichenen Zusammenspiel mit der Orientierungsfähigkeit, Reaktionsfähigkeit, Rhythmisierungsfähigkeit, Gleichgewichtsfähigkeit, Umstellungsfähigkeit und Kopplungsfähigkeit.

Der Mensch orientiert sich an räumlichen Gegebenheiten und Veränderungen und ist in der Lage, sich adäquat an diese Situation anzupassen. Der kinästhetische Informationsaustausch, der mit dem zuständigen Gehirnareal stattfindet, versetzt ihn in die Lage, auf diese eingehenden Sinnesinformationen entsprechend zu reagieren und diese motorisch umzusetzen.

Zudem besitzt er die Fähigkeit, seine Bewegungsabläufe an diesen veränderten, vorgegebenen Rhythmus anzupassen, seinen Körper und seine Bewegungsabläufe im Gleichgewicht zu halten und feinmotorisch aufeinander abzustimmen.

Seine Kopplungsfähigkeit erlaubt ihm, am Ende dieses Vorgangs alle seine Bewegungen oder auch Teilbewegungen räumlich und zeitlich koordiniert zu synchronisieren, um die erstrebte Zielbewegung bestmöglich zu erreichen.

Der Differenzierungsmöglichkeit kommt innerhalb dieser Sinnesfähigkeiten eine übergeordnete Rolle zu, da sie vor allem im Bereich des erhöhten Leistungsniveaus unverzichtbar ist. Um einen Bewegungsablauf differenziert abzustimmen, ist zuvor eine weitreichende Aufnahme von Informationen und deren Verarbeitung unerlässlich.

Dem Kleinhirn mit seinem kinästhetischen Analysator kommt dabei eine entscheidende Rolle zu, denn er unterscheidet zwischen Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung. Ein Beispiel aus dem Sportbereich: Damit der Tennisspieler in der Lage ist, den kleinen Tennisball, der sich mit ungefähr 180 km/h über das Tennisfeld auf ihn zubewegt, mittig zu treffen, muss er seinen Schläger optimal zum sich annähernden Tennisball hinführen.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Position des Schlägerkopfes zum Ball entscheidend. Der Tennisspieler muss seinen Krafteinsatz dosiert auf der Grundlage seiner kinästhetischen Differenzierungsfähigkeit einsetzen, die mit diesem Bewegungsablauf zu einer der wichtigsten koordinativen Fähigkeiten wird.

Es findet ein ständiger Informationsaustausch über die derzeitige Situation, die Stellungskorrektur und weiterer, sich daran anschließender Bewegungsabläufe statt. Je regelmäßiger diese motorischen Abläufe trainiert werden, desto dichter erfolgt die Verschaltung der an diesem Bewegungsprozess beteiligten Neuronen in einer fein abgestimmten Koordination mehrerer Zentren des Groß- und Kleinhirns.


Krankheiten & Beschwerden

Die optische, die phonematische und die melodische Differenzierungsfähigkeit sind weitere Sinneswahrnehmungen, ohne die wir im täglichen Leben nicht zurechtkommen würden.

Die optische Sinneswahrnehmung ist eine unverzichtbare Voraussetzung, um das Lesen und Schreiben zu erlernen. In der Regel erlernen wir diese Fähigkeiten in der Schule. Die Kinder sind dabei auf eine hohe Präzision optischer Wahrnehmung angewiesen. Am Anfang der Lernphase konzentriert sich das Kind auf die technische und formale Seite des Lernprozesses, da seine Fähigkeit noch nicht so routiniert ausgebildet ist, als dass dieser Prozess automatisch ohne große Anstrengung abläuft.

Die automatische und exakte Wahrnehmung optischer Modalitäten der Schriftzeichen ist eine Voraussetzung, um den Lese- und Schreibvorgang als Einheit motorischer Fertigkeit und Verstehen (Verarbeitung der Informationen im Gehirn) zu sichern.

Die phonematische Differenzierungsfähigkeit versetzt Menschen in die Lage, phonetische Laute innerhalb eines Wortes herauszuhören, um das gesprochene Wort zu verstehen. Die kinästhetische Differenzierungsfähigkeit ist für das Lesen und die Artikulation zuständig und kontrolliert die richtige Aussprache. Die melodische Fähigkeit zu differenzieren, versetzt die Menschen in die Lage mittels der melodischen Diktion Sätze und Wörter unterschiedlich zu werten.

Sind die verschiedenen Differenzierungsfähigkeiten fehlgebildet oder nur ungenügend ausgebildet, zeigen die betroffenen Menschen entsprechende Anzeichen, zum Beispiel einen gestörten Bewegungsablauf, fehlende Feinmotorik, eine Lese-, Schreib- oder Rechenschwäche sowie Defizite in der Aussprache.

Diese fehlenden oder mangelhaft ausgebildeten Fähigkeiten können bei den betroffenen Menschen tiefverwurzelte und langanhaltende Verhaltensmuster in allen Bereichen des persönlichen und sozialen Lebens hervorrufen. Menschen mit einer Lese- und Schreibschwäche leiden zum Beispiel oft unter Unsicherheit und Minderwertigkeitskomplexen, weil sie nicht in der Lage sind, die gleichen Leistungen zu erbringen wie ihre Mitmenschen.

Ist die Feinmotorik nur unzureichend ausgebildet, kann dieses Defizit Beschwerden in unserem Alltag hervorrufen, da wir den ganzen Tag über Bewegungen ausführen müssen, gleichgültig, ob es sich um sportliche Leistungen, das Tippen am Computer, Einkaufen oder sonstige alltägliche Tätigkeiten handelt.

Die Verhaltensmuster der betroffenen Personen können mehr oder weniger deutlich von den kulturellen, gesellschaftlich und akzeptierten Vorgaben abweichen. Diese Abweichungen äußern sich in verschiedenen Bereichen wie der kognitiven Wahrnehmung, Impulskontrolle und Affektivität.

Die daraus resultierenden Verhaltensmuster können unangepasst, unflexibel und unzweckmäßig sein. Die betroffenen Personen empfinden einen persönlichen Leidensdruck und einen nachteiligen Einfluss ihrer Umwelt.

Eine mangelnde Differenzierungsfähigkeit hat weitreichende Auswirkungen auf das ganze Leben der Menschen und betrifft das Fühlen, Denken, Wahrnehmen, die Reaktion auf die Umwelt und die Beziehungen zu anderen Menschen.

Quellen

  • Arasteh, K., et. al.: Innere Medizin. Thieme, Stuttgart 2013
  • Gerok, W., Huber, C., Meinertz, T., Zeidler, H. (Hrsg.): Die innere Medizin – Referenzwerk für den Facharzt. Schattauer, Stuttgart 2007
  • I care Krankheitslehre. Thieme, Stuttgart 2015

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