Bindungsstörung

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 27. Februar 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Immer mehr Menschen wollen keine fixe und längerfristige Bindung eingehen. Wenn die erste Verliebtheit verschwindet und unliebsame Eigenschaften des Partners zu Tage treten, flüchten viele wieder ins Single-Dasein. Bindungsstörung ist ein typisches Charakteristikum der heutigen Gesellschaft. Sind deshalb die meisten Singles beziehungsgestört?

Inhaltsverzeichnis

Was ist eine Bindungsstörung?

In extremen Fällen kann eine Bindungsstörung von einer Frühgeburt oder von Traumata im Mutterleib (beispielsweise Drogensucht der Mutter) ausgelöst werden.
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Eine Störung ist noch lange keine Krankheit. Erst wenn die betroffenen Personen unter ihren Einschränkungen leiden, kann von einer pathologischen Störung gesprochen werden. Menschen, die Bindungen eingehen möchten, aber nicht können, leiden unter einer Bindungsstörung.

Alle anderen sind vielleicht einfach nur ängstlich, also sei hier Vorsicht geboten beim Etikettieren von vermeintlich bindungsgestörten Menschen. Bindungsstörungen sind laut der psychologischen Lehre meist im Kindesalter begründet und werden in zwei verschiedenen Formen diagnostiziert: Die reaktive Bindungsstörung im Kindesalter und die Bindungsstörung in enthemmter Form.

  • Erstere ist definiert durch multiple Ängste, Aggressionen gegen sich selbst und andere, also durch soziale Störungen und emotionale Auffälligkeiten.
  • Zweitere zeigt sich durch aufmerksamkeitsheischendes Verhalten und Anklammerung der Kinder an ihre Bezugspersonen, aber meistens nicht durch emotionale Auffälligkeiten. Beinahe immer finden sich die Ursachen für Bindungsstörung in der frühesten und frühen Kindheit.

Ursachen

In extremen Fällen kann eine Bindungsstörung von einer Frühgeburt oder von Traumata im Mutterleib (beispielsweise Drogensucht der Mutter) ausgelöst werden. Fast immer jedoch ist die Ursache eine starke Vernachlässigung des Kindes in den ersten drei Lebensjahren. Gründe können sein, dass sich die Mutter aufgrund psychischer Probleme nicht um das Kind kümmern kann.

Auch ein häufiger Wechsel der Pflegepersonen, der Tod der Eltern oder Verlust der Pflegepersonen, lange Krankenhausaufenthalte, Aufenthalte in Heimen oder sexueller Missbrauch können dies begründen. Generell lässt sich sagen, dass 70 Prozent aller Kinder sichere Bindungen haben. Von den übrig bleibenden 30 Prozent haben viele eine unsichere Bindung zu ihren wichtigsten Bezugspersonen.

Dies bedeutet für sie eine höhere Wahrscheinlichkeit, aber nicht mit Sicherheit an einer Bindungs- oder anderen psychischen Störung zu erkranken. Kinder mit sicheren Bindungen haben später keine Angst, selber Bindungen – auch wenn sie risikobehaftet sind – einzugehen und ein echter Bindungspartner in einer Partnerschaft zu sein.


Symptome, Beschwerden & Anzeichen

Kinder mit Bindungsstörung leiden an Ängsten, sind übervorsichtig und unglücklich, sie haben selten Beziehungen zu Gleichaltrigen, spielen kaum und sind nicht richtig sozialisiert. Bindungsstörung bei Erwachsenen entwickelt sich meist aus einer kindlichen Form der Bindungsstörung. Erwachsene, die gerne einmal eine kurzzeitige Beziehung zulassen, sich dann schnell zurückziehen und weglaufen, sind noch lange nicht bindungsgestört.

Dies gilt erst, wenn sie sich eine Bindung ersehnen, aber keine Intimität zulassen können. Bindungsgestörte Menschen haben keine Wahl, ob sie eine Beziehung zu einem anderen Menschen haben, wollen oder nicht. Es wird zwischen verschiedenen Bindungsmustern unterschieden. Am problematischsten ist das der desorganisiert Gebundenen. Diese konnten bereits in der Kindheit keine Bindung zu Bezugspersonen aufbauen, glauben demnach nicht an emotionale Sicherheit und zeigen keine Bedürfnisse.

Sie wirken indifferent und können auch auf ihren Partner nicht eingehen. Erwachsene leiden an BS, wenn mehrere der folgenden Symptome zutreffen: Wunsch nach Kontrolle, Unfähigkeit Liebe und Führung zu akzeptieren, starker unerklärbarer Zorn und feindseliges Verhalten, fehlende Empathie und fehlendes Vertrauen, Angst vor Verantwortung. Gefühle der Verwirrung, der Angst und der Traurigkeit kommen meist hinzu.

Diagnose & Verlauf

Um die Störung richtig zu diagnostizieren, müssen Autismus, das Asperger-Syndrom, Behinderungen und schizophrene Störungen ausgeschlossen werden. Bei Bindungsstörungen ist im Gegensatz zu anderen psychosozialen Störungen das Sprachvermögen normal, die Intelligenz nicht vermindert und keine Wahnvorstellungen vorhanden.

Auch wenn eine reaktive Bindungsstörung bei einem Erwachsenen bisher nicht erkennbar war, kann sie durch ein traumatisches Ereignis, das ihn oder sie in seinem oder ihrem Erwachsenenalter trifft, aus dem Kindesalter reaktiviert werden. Unbewusst oder bewusst beschließt die betroffene Person, keine schmerzhaften Bindungen mehr einzugehen.

Bei Erwachsenen ist die Enddiagnose Fachleuten nach Führung mehrerer Gespräche vorbehalten. Wichtig ist zu wissen: Nicht jeder bindungsunwillige Mensch ist bindungsgestört!

Durch ihr eingeschränktes Spiel- und Sozialverhalten sind Kinder, die unter einer Bindungsstörung leiden, häufig Außenseiter. Das Spektrum reicht dabei von freiwilliger Abgrenzung über beiläufige Ausgrenzung durch die anderen Kinder bis hin zum Mobbing.

Komplikationen

Eine häufige Komplikation bei der Bindungsstörung sind Missverständnisse, welche die Bedürfnisse des Kindes betreffen. Auch liebevollen Bezugspersonen fällt es mitunter schwer, das widersprüchliche Verhalten des Kindes richtig zu deuten. Wenn sich das Kind beispielsweise zurückzieht, kann es dennoch emotionale Bedürfnisse nach Nähe und Zuneigung verspüren.

Aus diesem Grund sollten Bezugspersonen viel Geduld aufbringen und sich fachlich beraten lassen. Die Bindungsstörung wird meistens im Kindesalter diagnostiziert, doch sie kann sich ins Jugend- und Erwachsenenalter fortsetzen. Vor allem dauerhafte emotionale Bindungen wie Liebesbeziehungen und langfristige Freundschaften stellen dabei oft eine Herausforderung dar.

Unter Umständen sind weitere psychische Störungen möglich, die sich aus der Bindungsstörung entwickeln. Als Komplikation können beispielsweise Angststörungen, Depressionen oder somatische Störungen auftreten. Bei ungünstigem Verlauf sind auch Persönlichkeitsstörungen wie die Borderline-Persönlichkeitsstörung möglich, wobei diese allerdings erst im frühen Erwachsenenalter zuverlässig diagnostiziert werden können.

Je nach Ursache der Bindungsstörung sind darüber hinaus weitere Komplikationen und Begleiterkrankungen möglich – zum Beispiel in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung, wenn die Bindungsstörung auf Missbrauch oder Misshandlung zurückgeht.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

In der Regel sollte bei einer Bindungsstörung dann ein Arzt aufgesucht werden, wenn es durch die Störung zu starken Einschränkungen im Alltag und im Leben des Betroffenen kommt. In vielen Fällen führt diese Störung auch zu starken psychischen Beschwerden oder sogar zu Depressionen und kann damit die Lebensqualität deutlich verringern und negativ beeinflussen. Ein Arzt sollte dann aufgesucht werden, wenn es zu sozialen Schwierigkeiten und zum Verlust von Freunden und Kontakten kommt, die für das Wohlbefinden des Betroffenen auf jeden Fall notwendig sind.

Auch bei anderen psychischen Beschwerden muss ein Arzt konsultiert werden. Nicht selten führt eine Bindungsstörung auch zu Angst oder zu einer dauerhaften Traurigkeit und Verwirrung. Sollte der Betroffene daher diese Gefühle aufweisen, so sollte ebenso ein Arzt konsultiert werden. Vor allem bei einem langfristigen Auftreten dieser Gefühle ist ein Besuch bei einem Arzt notwendig. In der Regel kann dafür ein Psychologe aufgesucht werden. Nicht selten helfen bei einer Bindungsstörung auch Gespräche mit Freunden und Bekannten über die Beschwerden und Ursachen der Krankheit.

Behandlung & Therapie

Eine Bindungsstörung kann sich im Laufe des Lebens verschlechtern, wenn etwa die wichtigste Bezugsperson verschwindet oder stirbt, oder wenn es zu einem verletzenden Betrug kommt. Sie kann sich aber durch eine heilsame Beziehung oder Therapie auch bessern. Für Kinder ist die einzige Therapieform ein gleichbleibendes Umfeld.

Dies darf sich, egal welche Entwicklungsschritte das Kind macht, nicht mehr ändern, um eventuelle Erfolge nicht zu gefährden. Liebevoller, verständnisvoller Umgang ist wichtiger als jede Psychotherapie. Eventuell kann das Kind einer Spieltherapie unterzogen werden. Am wichtigsten ist, dass das Kind lernt, Vertrauen aufzubauen.

Oft brauchen die Pflegepersonen den Rat und die Unterstützung von Experten. Im Extremfall müssen dem Kind Medikamente verabreicht werden, um die Aggressionen gegen sich selbst in den Griff zu bekommen. Bei Erwachsenen ist eine Psychotherapie unbedingt angeraten. Um diese erfolgreich zu bewältigen, ist ein Blick in die eigene Biografie nötig: Viele Menschen verdrängen eine lieblose, beziehungslose Kindheit, weil es zu sehr schmerzt, sich damit zu beschäftigen.

Sie werfen Beziehungen, die sie fordern, sofort weg oder drohen mit Beendigung der Beziehung, wenn von ihnen direkt etwas gefordert wird. So müssen Betroffene lernen, sehr kritisch zu sich selbst zu sein und Schritt für Schritt mit Hilfe der Therapeuten andere Aktionen als Resignation anzuwenden.

Aussicht & Prognose

Die Prognose der Bindungsstörung hängt von vielen Faktoren ab. Grundsätzlich erweisen sich Bindungsstile in psychologischen Studien als hartnäckig: Im Erwachsenenalter setzt sich in den meisten Fällen der Bindungsstil fort, der im Kindesalter erlernt wurde.

Möglicherweise erhöht eine Bindungsstörung im Kindesalter die Wahrscheinlichkeit dafür, später an einer Persönlichkeitsstörung zu erkranken. Hierzu kann jedoch keine konkrete Prognose abgegeben werden, da sich die meisten Studien zu diesem Thema lediglich rückblickend mit dieser Fragestellung beschäftigen. Borderline-Persönlichkeiten litten als Kinder überdurchschnittlich häufig unter einer Bindungsstörung oder hatten einen unsicheren Bindungsstil.

Gezielte Maßnahmen, zum Beispiel bei einem Kinder- und Jugendtherapeuten oder einer Elternberatung, können sich positiv auf den Bindungsstil auswirken. Wenn das betroffene Kind eine neue Bezugsperson findet und eine stabile Bindung zu dieser Person aufbauen kann, muss sich die Bindungsstörung im späteren Leben nicht fortsetzen. Im Allgemeinen gelten Behandlungen dann als besonders aussichtsreich, wenn sowohl das Kind als auch die Bindungsperson einbezogen werden.

Eine stabile Bindung gilt als Schutzfaktor für viele psychischen Krankheiten. Als potenzielle Bindungspersonen kommen nicht nur die biologischen Eltern infrage, sondern auch Adoptiv- oder Pflegeeltern, andere Familienmitglieder, Erzieher, Kinderpfleger und andere Personen, die ein beständiges Verhältnis zum Kind haben.


Vorbeugung

Die eigentliche Vorbeugung liegt in der Kindheit. Unsere Gesellschaft muss unseren Kindern Liebe und Beziehung vorleben. Ein Kind braucht ein stabiles Umfeld. Das heißt aber nicht, dass Kinder aus Scheidungen, aus Heimen, aus traumatischen Schwangerschaften oder Waisen unbedingt bindungsgestört werden.

Es muss nur für jedes Kind wenigstens eine Beziehungsperson da sein, die es unter keinen Umständen verlässt, im Idealfall ein Elternteil, aber auch eine Tante oder ein Großvater können diese Rolle übernehmen. Allen, die nicht so viel Glück hatten und deshalb Bindungsstörungen aufgebaut haben, sei ans Herz gelegt, dass alles fließt. Nichts ist endgültig und alles kann zum Besseren bekehrt werden.

Nachsorge

Eine Bindungsstörung wird meist behandelt, wenn der Betroffene sie als beschwerend empfindet. Demgegenüber hat die Nachsorge oft einen präventiven Charakter. Sie will nach einer erfolgreichen Behandlung ein Wiederauftreten verhindern oder Komplikationen generell ausschließen. Zu unterscheiden sind grundsätzlich Erkrankungen von Erwachsenen und Kindern.

Erwachsene verschleppen oft Bindungsstörungen aus der Kindheit in das Erwachsenenalter. Zur Aufarbeitung der seelischen Probleme wird ein Psychotherapeut beauftragt. Selbst nach einer einmaligen Genesung können die typischen Symptome wieder auftreten.

Äußere Anlässe wie der Verlust einer Bezugsperson begründen oft eine Behandlung. Die entstandenen Ängste werden in Gesprächen und mittels sozialer Trainings abgebaut. Manchmal sind Teilbeschwerden durch Medikamente behebbar. Meist sind Kinder von Bindungsstörungen betroffen. Da sie sich noch nicht ihr eigenes soziales Umfeld schaffen können, wirken Vernachlässigungen besonders nachteilig.

Sie werden dauerhaft therapiert, falls die Ursachen, die meist Erwachsene steuern, nicht wegfallen. Eine erneute Behandlung sollte in einem bekannten Umfeld erfolgen. Haben Kinder einmal Vertrauen aufgebaut, können so Ergebnisse beschleunigt erzielt werden. Stationäre Therapien sind die Ausnahme. Eine Bindungsstörung kann sich auf den Großteil des Lebens erstrecken. Manche Patienten gelangen in eine Dauerbehandlung. Ihr Therapeut wird dann zu einer zentralen Lebensstütze.

Das können Sie selbst tun

Wer unter einer Bindungsstörung leidet, erlebt meist nur ein unbefriedigendes soziales Leben. Im alltäglichen Leben fällt es den Betroffenen schwer, eine Bindung zu den Mitmenschen aufzubauen und offen auf Menschen zuzugehen. Da der Kontakt mit anderen Menschen meist von Angst und Unsicherheits-Gefühlen begleitet ist, gehen viele bindungsgestörte Personen anderen Menschen aus dem Weg und versuchen diese auf Distanz zu halten.

Um den Alltag erträglicher zu machen, sollte das nahe Umfeld Rücksicht auf die Probleme des Betroffenen nehmen und diesem seine individuelle Freiheiten ermöglichen. In einer Beziehung sollte sich der Partner stets bewusst sein, dass er ausreichend Geduld, Liebe und Freiheiten für das langfristige Funktionieren der Beziehung aufbringen muss.

Eine enorme Hilfe kann auch das Besuchen von Selbsthilfegruppen darstellen, in denen man sich mit Gleichgesinnten austauschen kann. Die Erkenntnis, dass man nicht alleine mit seiner Bindungsstörung dasteht, spendet Trost und baut den persönlichen Druck der Betroffenen ab. Unter Gleichgesinnten stößt man meist auf Verständnis für seine Probleme und kann zusammen Wege aus der Angst und dem Misstrauen finden, sodass man in Zukunft befriedigende Beziehungen eingehen kann.

Quellen

  • Arolt, V., Reimer, C., Dilling, H.: Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Heidelberg 2007
  • Köhler, T.: Medizin für Psychologen und Psychotherapeuten. Schattauer, Stuttgart 2014
  • Lieb, K., Frauenknecht, S., Brunnhuber, S.: Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie. Urban & Fischer, München 2015

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