Aphantasia

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 27. Februar 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Die Aphantasia ist eine Sonderform der visuellen Agnosie und entspricht der vollständigen Unfähigkeit zum willentlichen Abruf von visuellen Bildern. Das Krankheitsbild geht vermutlich auf Gehirndefekte zurück. Therapien gibt es bislang nicht.

Inhaltsverzeichnis

Was ist Aphantasia?

Adam Zeman und seine Kollegen haben die Aphantasia mit der Seelenblindheit oder der visuellen Agnosie in Zusammenhang gebracht. Dabei handelt es sich um eine Störung bei der Verarbeitung von visuellen Reizen, die von einer Schädigung des Sehzentrums verursacht wird.
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Das Unterbewusstsein und Bewusstsein des Menschen arbeiten über mentale Bilder. Die Visualisierung ist ein basischer Prozess der Kognition. Kognitive Visualisierungsprozesse entstehen durch ein Netzwerk verschiedener Gehirnregionen, so vor allem durch die Bereiche des Parietal, Frontal-, Temporal- und Okzipitallappens. Zur kognitiven Visualisierung sind abgespeicherte Erinnerungen entscheidend, die entsprechende Bilder ins Bewusstsein rufen.

Wer beispielsweise einen Roman liest, sieht die beschriebenen Situationen in der Regel vor seinem inneren Auge. Die Fähigkeit zur kognitiven Visualisierung ist bis zu einem gewissen Grad individuell. Die absolute Unfähigkeit zu einer solchen Visualisierung und damit die gänzliche Abwesenheit eines Vorstellungsvermögens wird als Aphantasia bezeichnet. Professor Adam Zeman von der University of Exeter Medical School hat den Begriff 2015 im Rahmen einer Studie zur Seelenblindheit eingeführt.

Der Begriff wurde von ihm zur Beschreibung eines hypothetischen Zustands benutzt. Er bezog sich mit der Beschreibung auf einen 65-jährigen Mann, der nach einer Herzoperation angeblich sein Vorstellungsvermögen verloren hatte. Nach der Veröffentlichung von Zemans Ausführungen meldeten sich mehr als 20 Personen, die sich als Aphantasia-Patienten beschreiben.

Ursachen

Adam Zeman und seine Kollegen haben die Aphantasia mit der Seelenblindheit oder der visuellen Agnosie in Zusammenhang gebracht. Dabei handelt es sich um eine Störung bei der Verarbeitung von visuellen Reizen, die von einer Schädigung des Sehzentrums verursacht wird. Dieses Sehzentrum sitzt im Occipitallappen und lässt visuelle Agnostiker Gegenstände und Gesichter nicht mehr erkennen, obwohl sie die Objekte deutlich sehen können.

Die meisten Patienten der visuellen Agnosie können Gegenstände auf Basis ihrer Seherinnerung zumindest ungefähr beschreiben. Patienten der hypothetischen Aphantasia wären dazu nicht in der Lage. Damit wäre die Aphantasia eine Sonderform der visuellen Agnosie und ließe sich gleichzeitig als extremste Art der Seelenblindheit bezeichnen. Als Ursache für die absolute Unfähigkeit zur bildhaften Vorstellung gehen die Erstbeschreiber von einem schwerwiegenden Defekt in den beteiligten Hirnregionen aus.

Ob genetische Faktoren wie erbliche Mutationen oder äußere Faktoren wie Giftexposition die absolute Aphantasia begünstigen, ist bislang nicht geklärt. Einige der scheinbaren Aphantasia-Patienten gaben an, seit der Geburt an den Symptomen zu leiden. Andere führten den Beginn der Erkrankung auf ein einschneidend traumatisches Ereignis in ihrem Leben zurück, so zum Beispiel auf den Tod einer geliebten Person. Wahrscheinlich unterscheidet sich die angeborene Form der Aphantasia ferner soweit von der erworbenen, dass von verschiedenen Krankheiten ausgegangen werden muss.


Symptome, Beschwerden & Anzeichen

Patienten der Aphantasia können zwar sehen, aber besitzen trotz der Fähigkeit zur visuellen Reizverarbeitung keinerlei Fähigkeit, Bilder aus ihrer Seherinnerung oder ihrer kognitiven Vorstellungswelt willkürlich abzurufen. Dieser Zusammenhang führt dazu, dass die Betroffenen Situationen, Gegenstände oder Lebewesen auf Basis einer reinen Beschreibung nicht visualisieren können.

Manche der Patienten fühlen sich aus Berufszweigen wie der Architektur ausgeschlossen, da sie sich das Endprodukt der Arbeit nicht vorstellen können. Viele geben an, dass beschreibende Texte für sie grundsätzlich bedeutungslos sind. Wieder andere können sich nicht an das Aussehen ihrer Partner oder verstorbener Familienmitglieder erinnern und leiden sehr unter diesem Zusammenhang. Die meisten der Patienten sind absolut unfähig, bereits durchlebte Momente in ihrer Phantasie nochmals zu erleben.

Oft schildern die Betroffenen begleitsymptomatisch ein Gefühl der Isolation und Einsamkeit. Die nächtlichen Träume scheinen von Aphantasia nicht betroffen zu sein. Die meisten der Patienten erklären, sich nur Gedachtes nicht vorstellen zu können. Die Visualisierung von Gedachtem entspricht einer bewussten Visualisierung. Die Visualisierung im Traum ist eine Visualisierung des Unterbewusstseins. Die scheinbare Entkopplung von unbewusster und bewusster Visualisierung legt als Ursache der Aphantasia einen Defekt in einem Gehirnbereich nahe, der im Wachzustand besonders aktiv ist.

Diagnose

Bislang ist die Anamnese das einzige Mittel zur Diagnostizierung einer Aphantasia. Die Diagnose kann so bisher nur auf Verdacht gestellt werden. Diagnosesichernde Mittel existieren nicht. Da die Anamnese auf Basis subjektiver Schilderungen durch den Patienten stattfindet, ist eine objektive Diagnostik derzeit unmöglich.

Komplikationen

Bei der Aphantasia treten in der Regel keine besonderen medizinischen Komplikationen auf. Durch die Aphantasia kann sich der Patient bildliche Sachen und Vorgänge nicht oder nur sehr eingeschränkt vorstellen. Die Aphantasia kann bei vielen Menschen komplett unterschiedlich auftreten, bei diesem Symptom gibt es kein Maß, an welchem die Ausprägung definiert werden kann.

In der Regel kann der Patient keine mentalen Bilder visualisieren oder sich Geschehnisse vorstellen. Dies führt meistens zu einem eingeschränkten Denkvermögen. Menschen mit Aphantasia können allerdings ein vollständig gewöhnliches Leben ohne weitere Einschränkungen führen. Möglicherweise können sie bestimmte Künstlerberufe nicht ausführen oder sich an Geschehnisse nicht besonders gut erinnern.

Oft fallen den Betroffenen auch Beschreibungen von Geschehnissen aus der Vergangenheit relativ schwer. Die Aphantasia ist weitgehend unerforscht, sodass es bei diesem Symptom keine Möglichkeit zur Behandlung gibt. Sie kann angeboren sein oder nach einem Unfall auftreten. Bei starken Ausprägungen ist ein räumliches Denken und Vorstellen nicht ohne Weiteres möglich.

Im Alltag führt dies zu keinen besonderen Komplikationen. Auch ist die Lebenserwartung bei Menschen mit Aphantasia nicht geringer als bei gesunden Menschen. In den meisten Fällen ist den Betroffenen nicht bewusst, dass sie an der Aphantasia leiden.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

Eine Aphantasia muss nicht unbedingt von einem Arzt abgeklärt werden. Wer den Verdacht hat, kein bildliches Vorstellungsvermögen zu haben, sollte allerdings medizinischen Rat suchen. Zwar gibt es bis heute keine wirksame Behandlungsmethode, durch therapeutische Maßnahmen kann die fehlende Vorstellungskraft jedoch kompensiert werden. Ob dies notwendig ist, hängt davon ab, ob es sich um eine angeborene oder eine entwickelte Aphantasia handelt und wie stark das Phänomen ausgeprägt ist.

Letztlich muss der Betroffene selbst entscheiden, ob und inwieweit die Aphantasia die Lebensqualität einschränkt. Ein erstes Beratungsgespräch kann allerdings Unsicherheiten im Umgang mit dem seltenen Phänomen nehmen und Therapiemöglichkeiten aufzeigen. Aphantasia nach einem Schlaganfall oder einer anderen Erkrankung sollte mit dem zuständigen Arzt besprochen werden.

Möglicherweise handelt es sich lediglich um die Nebenwirkung eines bestimmten Medikaments oder die Aphantasia hat psychische Ursachen. Ein Arzt sollte spätestens dann konsultiert werden, wenn das Phänomen die Lebensqualität beeinträchtigt. Kann der Betroffene beispielsweise nicht mehr vernünftig lernen oder die Tätigkeiten am Arbeitsplatz ausführen, ist medizinischer Rat gefragt.

Behandlung & Therapie

Da die Aphantasia bisher eher eine hypothetische Vorstellung als eine objektiv reale Erkrankung ist, existieren bislang keine Optionen zur Therapie. Erst mit der Klärung der Ursachen, lassen sich zum Beispiel kausale Therapien entwickeln. Symptomatische Therapien würden bei der Aphantasia vermutlich ein kognitives Training beinhalten, das die visuelle Vorstellungsgabe aktiviert und fördert. Wenn tatsächlich ein Defekt im Gehirn die Erkrankung verursacht, könnte ein solches Training die Symptome vermutlich trotzdem lindern.

Schlaganfallpatienten sind trotz irreversiblen Hirnschädigungen zur Rehabilitation in der Lage, indem sie durch das häufige Wiederholen bestimmter Abläufe gesunde Gehirnregionen zur Übernahme von Aufgaben aus den geschädigten Regionen bringen. Nach diesem Prinzip könnten Patienten der Aphantasia unter professioneller Anleitung zum Beispiel täglich die visuelle Erinnerung an bestimmte Gegenstände oder Gesichter trainieren.

Unter Umständen würde auch eine elektrische Stimulation der defekten Gehirnregion als Therapieoption infrage kommen. Da es sich bei der Aphantasia nach einem psychischen Trauma nicht um dieselbe Krankheit handeln kann wie bei der angeborenen oder der physisch bedingten Aphantasia, werden diese Patienten vermutlich auf gänzlich anderem Wege behandelt. So kann eine Aufarbeitung des auslösenden psychischen Traumas in der Psychotherapie die Vorstellungsblockade für diese Patienten vermutlich aufheben.

Aussicht & Prognose

Die Aphantasia hat eine ungünstige Prognose. Die Erkrankung ist nach den derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht behandel- oder heilbar.

Es liegt ein Defekt des Hirngewebes vor, welcher mit den aktuellen medizinischen Forschungsergebnissen nicht reparabel ist. Innerhalb einiger Therapieansätze besteht zusätzlich das erhöhte Risiko, dass weiteres Gehirngewebe beschädigt wird. Dies würde zu einer sofortigen Verschlechterung des Allgemeinwohls führen und neue Störungen oder Beeinträchtigungen auslösen. Damit droht dem Patienten ein lebensgefährdender Zustand. Ohne eine Behandlung oder Therapie ändert sich der körperliche Gesundheitszustand im Normalfall nicht. Mit einer Zunahme der Symptome ist daher auch im Verlauf des weiteren Lebens nicht zu rechnen.

Da diese Erkrankung nicht geheilt werden kann, konzentriert sich der Behandlungsplan auf die Verbesserung der Folgeerscheinungen einer Aphantasia. Diese beziehen sich zumeist auf die Psyche des Patienten. Damit die Lebenslust erhalten bleibt und das Wohlbefinden optimiert wird, stehen dem Erkrankten psychotherapeutische Ansätze zur Verfügung.

In einer Therapie wird das Selbstbewusstsein des Patienten gestärkt, kognitive Muster werden hinterfragt und der Umgang mit der Erkrankung wird besprochen sowie trainiert. Dies hilft dem Erkrankten, um im Alltag eine Verbesserung der Lebensqualität zu erzielen und sich den täglichen Herausforderungen optimistischer zu stellen. Mit einer mentalen Stärke gelingt es häufig, trotz Beeinträchtigungen ein erfüllten Leben zu haben.


Vorbeugung

Der Aphantasia lässt sich bislang nicht vorbeugen, da die Forschung dazu nicht weit genug fortgeschritten ist.

Nachsorge

Ein Ziel der Nachsorge besteht darin, das Wiederauftreten der Erkrankung zu verhindern. Nach derzeitigem Stand der Wissenschaft kann dieses bei einer Aphantasia aber nicht erfolgen. Sie gilt als nicht heilbar. Ursächlich besteht ein Defekt am Hirngewebe. Dieser kann angeboren vorliegen oder durch einen Unfall entstanden sein.

Nichtsdestotrotz kann eine Nachsorge sinnvoll sein, um Komplikationen zu verhindern und dem Patienten eine Alltagsbegleitung zu liefern. In der Praxis ist der Wunsch des Betroffenen hierfür maßgeblich. Die Aphantasia stellt keine lebensbedrohliche Erkrankung dar. Nur wenn die Lebensqualität leidet, ist der Weg zum Arzt ratsam.

Der behandelnde Mediziner kann dazu eine Psychotherapie anordnen. Dadurch sollen sich kognitive Stützen im Alltag einstellen. Auch das Selbstbewusstsein kann so gestärkt werden. Eine medikamentöse Behandlung ist nach bisherigem wissenschaftlichen Stand nicht zielführend. Die Aphantasia wird mittels Vorstellungstests diagnostiziert.

Betroffene schneiden hier im Vergleich zu anderen Probanden vergleichsweise schlecht ab. Wesentliches diagnostisches Mittel ist darüber hinaus die subjektive Schilderung. Eindeutige und objektive Methodiken zur Feststellung bestehen bisher nicht. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Elektrostimulation Gehirnareale positiv behandeln kann. Es handelt sich aber hierbei bislang um ein experimentelles Feld.

Das können Sie selbst tun

Bei dem Verdacht auf Aphantasia können verschiedene Online-Tests und Diagnosemethoden zurate gezogen werden. Sollte sich dadurch ergeben, dass das Vorstellungsvermögen tatsächlich stark eingeschränkt ist, muss ein Arzt hinzugezogen werden. Dieser kann feststellen, ob es sich um eine angeborene oder eine psychisch oder krankheitsbedingte Aphantasia handelt und eine geeignete Therapie vorschlagen.

Bei einer krankheitsbedingten Aphantasia, wie sie beispielsweise bei Schlaganfallpatienten vorkommt, kann die Vorstellungskraft durch regelmäßiges Wiederholen bestimmter Abläufe gestärkt und so langfristig wieder auf das ursprüngliche Niveau gehoben werden. Unter professioneller Anleitung oder zu Hause können weitere Übungen zur Stärkung der visuellen Erinnerung und ganz allgemein der Fantasie durchgeführt werden. Bei einer psychisch bedingten Aphantasia muss innerhalb einer Psychotherapie das auslösende psychische Trauma behandelt werden.

Mögliche Selbstmaßnahmen sind unter anderem ein Wechsel des Umfelds oder eine Umstellung des Lebensstils. Eine angeborene Phantasia muss von den Betroffenen akzeptiert werden. Behandlungsmaßnahmen wie kognitives Training oder elektrische Stimulation können die Symptome vermutlich lindern, die Vorstellungskraft allerdings nicht vollständig wieder herstellen. Der Umgang mit der Erkrankung kann etwa durch entsprechende Fachlektüre und Gespräche mit Fachärzten gelernt werden.

Quellen

  • Berlit, P.: Basiswissen Neurologie. Springer, Berlin 2007
  • Gleixner, C., Müller, M., Wirth, S.: Neurologie und Psychiatrie. Für Studium und Praxis 2015/16. Medizinische Verlags- und Informationsdienste, Breisach 2015
  • Schmidt, R., et al.: Physiologie des Menschen. Springer, Heidelberg 2010

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