Akutes cholinerges Syndrom

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 9. März 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Das akute cholinerge Syndrom zeichnet sich durch eine verstärkte Stimulation des Nervus vagus aus. Ursache für diese Stimulation ist eine erhöhte Konzentration an Acetylcholin, welches als Neurotransmitter im Parasympathikus fungiert. Die Behandlung des akuten cholinergen Syndroms erfolgt durch die Blockierung der muskarinischen Acetylcholinrezeptoren durch Atropin.

Inhaltsverzeichnis

Was ist das akute cholinerge Syndrom?

Das akute cholinerge Syndrom zeichnet sich durch eine verstärkte Stimulation des Nervus vagus aus. Ursache für diese Stimulation ist eine erhöhte Konzentration an Acetylcholin.

Das akute cholinerge Syndrom stellt eine Überstimulierung des Nervus vagus dar. Der Nervus vagus ist ein Teil des Parasympathikus, welcher für die Funktion der inneren Organe verantwortlich ist. Die Stimulierung des Parasympathikus wird durch den Neurotransmitter Acetylcholin bewerkstelligt. Dafür bindet sich Acetylcholin an die nikotinischen oder muskarinischen Acetylcholinrezeptoren der Nervenzellen.

Bei den nikotinischen Acetylcholinrezeptoren kann außer Acetylcholin auch Nikotin andocken. Entsprechend kann an den muskarinischen Acetylcholinrezeptoren das Pilzgift Muskarin binden, welches sich beispielsweise im Fliegenpilz befindet. Beim akuten cholinergen Syndrom liegt ein Überangebot von Acetylcholin vor, welches über die Bindung an die muskarinischen Acetylcholinrezeptoren des Nervus vagus zu den entsprechenden Symptomen führt.

Der Nervus vagus stellt den zehnten Hirnnerv dar. Er ist für die Regulierung fast aller inneren Organe verantwortlich. Im Lateinischen gibt es das Wort „vagaris“, was so viel wie „umherschweifen“ heißt. Daher bedeutet der Begriff Nervus vagus in der Übersetzung der "umherschweifende Nerv". Er innerviert verschiedene Organe zur Steuerung ihrer motorischen oder sensitiven Funktion.

Besonderen Einfluss hat er auf die unwillkürliche Steuerung der Motorik von Kehlkopf, Rachen und Speiseröhre. Des Weiteren vermittelt er die Geschmackempfindungen der Zunge oder Berührungsempfindungen im Rachenraum, im äußeren Gehörgang oder am Kehlkopf. Im Brust- und Bauchraum ist der Nervus vagus für die Vermittlung von Reflexen verantwortlich.

Das betrifft Herz, Lunge, Luftröhre oder Speiseröhre im Brustraum. Im Bauchraum werden Magen, Pankreas, Darm, Gallenblase, Leber oder auch Nieren angeregt. Daher kommt es bei einem akuten cholinergen Syndrom zur Überstimulierung dieser Organe.

Ursachen

Da für die Anregung der inneren Organe der Neurotransmitter Acetylcholin verantwortlich ist, muss bei einem akuten cholinergen Syndrom zu viel Acetylcholin vorliegen. Acetylcholin wird mithilfe des Enzyms Acetylcholinesterase nach der Freisetzung im synaptischen Spalt in Cholin und Essigsäure abgebaut.

Wird das Enzym jedoch in seiner Wirksamkeit unterdrückt, kann dieser Abbau nicht mehr ausreichend erfolgen. So sammelt sich Acetylcholin im synaptischen Spalt an. Es bindet sich verstärkt an die Acetylcholinrezeptoren, die daraufhin mit der dauerhaften Signalübertragung zwischen den einzelnen Nervenzellen des Nervus vagus beginnen.

Das Enzym Acetylcholinesterase kann unter anderem durch bestimmte phosphororganische Verbindungen deaktiviert werden. Diese Organophosphate binden dabei irreversibel an das aktive Zentrum des Enzyms. Zu diesen Substanzen gehören unter anderem die Nervengifte Tabun und Sarin oder die Schädlingsbekämpfungs- und Pflanzenschutzmittel Malathion und Diazinon.

Auch das Chemotherapeutikum Irinotecan hemmt das Enzym Acetylcholinesterase. Das Gleiche gilt für die Medikamente Neostigmin und Physostigmin. Diese beiden Medikamente stellen reversible Inhibitoren von Acetylcholinesterase dar. Das heißt, die Wirkstoffe binden zwar an das Enzym, können aber wieder abgespalten werden.

Insgesamt kann gesagt werden, dass das akute cholinerge Syndrom ein Vergiftungssyndrom darstellt. Die Auswirkungen dieser Gifte sind unterschiedlich. Die Nervengifte Tabun und Sarin wurden als Kampfstoffe im Krieg eingesetzt. Sie wirken innerhalb von Sekunden tödlich, während sich bei anderen Acetylcholinesterasehemmern mildere Symptome einstellen.

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Symptome, Beschwerden & Anzeichen

Das akute cholinerge Syndrom ist durch die Symptome Durchfall, Schwitzen, vermehrten Speichelfluss, tränende Augen, Bauchschmerzen, enge Pupillen mit Sehstörungen, Benommenheit, Schwindel, Unwohlsein, Schüttelfrost, Bindehautentzündung und niedrigen Blutdruck durch Gefäßerweiterung gekennzeichnet.

Alle Symptome sind Ausdruck der motorischen sowie sensitiven Überstimulierung der inneren Organe. Im besten Fall handelt es sich um Nebenwirkungen beim Einsatz von bestimmten Medikamenten. Phosphororganische Verbindung können jedoch bereits massive Vergiftungen hervorrufen, die im Falle der Nervengifte Tabun und Sarin oft in Sekundenschnelle zum Tode führen.

Diagnose & Verlauf

Die Diagnose des akuten cholinergen Syndroms beruht auf der Anamnese der Krankengeschichte. Die Zusammenstellung der typischen Symptome kann bereits zu einer Verdachtsdiagnose führen. Dabei wird auch analysiert, welche Medikamente in welcher Konzentration verabreicht wurden. Außerdem kann in diesem Rahmen auch erfragt werden, mit welchen Substanzen die betroffene Person sonst noch in Berührung gekommen ist.

Komplikationen

Der als Nervus vagus bezeichnete zehnte Hirnnerv ist für die Regulierung einer großen Anzahl der inneren Organe zuständig. Patienten, die unter dem akuten cholinergen Syndrom leiden, weisen eine Überstimulierung dieses Hirnnervs auf, die unmittelbare Störungen der betroffenen Organe im Brust- und Bauchraum verursacht. Diese Überstimulierung betrifft Herz, Leber, Lunge, Speiseröhre und Luftröhre im Brustraum.

Im Bauchraum sind Bauchspeicheldrüse, Magen, Darm, Leber, Gallenblase und Nieren betroffen. Besonderen Einfluss hat das akute cholinerge Syndrom auf die Steuerung der Motorik im Rachenraum, in der Speiseröhre und im Kehlkopf. Die multiplen organischen Störungen verursachen Durchfall, Augentränen, erhöhten Speichelfluss und Bauchschmerzen.

Typisch sind auch niedriger Blutdruck, Muskelkrämpfe und erweiterte Gefäße. Diese Symptomatik wird mit dem Nervengift Atropin behandelt. Dadurch tritt eine gegenteilige Wirkung ein, die zur Blockierung des parasympathischen Nervensystems führt. Diese Blockierung wird als anticholinerges Syndrom bezeichnet. Durch die Therapie mit Atropin als Gegengift werden die multiplen organischen Störungen beseitigt.

Da dieses Vergiftungssyndrom in den meisten Fällen auf Medikamente zurückgeht, die direkt auf das vegetative Nervensystem einwirken, erhalten die Patienten eine positive Prognose. Eine vollständige Heilung tritt in der Regel nach kurzer Behandlungszeit ein. Die Behandlung muss zeitnah nach der Diagnose erfolgen, da es sonst zu schweren Komplikationen kommen kann.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

Bei diesem Syndrom kommt es zu sehr vielen unterschiedlichen Beschwerden. In der Regel sollte immer ein Arzt aufgesucht werden. Da die Symptome meistens nach der Einnahme bestimmter Medikamente eintreten, müssen diese entweder abgesetzt oder durch andere Medikamente ersetzt werden. Dies sollte allerdings immer nur nach Rücksprache mit einem Arzt erfolgen. Die Betroffenen leiden dabei an Unwohlsein, einer Benommenheit und Verwirrtheit.

Auch die Belastbarkeit des Betroffenen wird erheblich eingeschränkt und es kann zu Sehstörungen oder zu Durchfall kommen. Sollten diese Beschwerden ohne besonderen Grund auftreten, so muss auf jeden Fall ein Arzt aufgesucht werden. Auch bei einem niedrigen Blutdruck oder bei einem Bewusstseinsverlust ist ärztliche Hilfe notwendig.

Sollte es zum Bewusstseinsverlust kommen, so kann auch der Notarzt gerufen werden. Nicht selten sind auch die inneren Organe von diesem Syndrom betroffen. Sollte es daher zu Beschwerden an den Nieren oder am Herzen kommen, so ist ebenso eine dringende Behandlung des Patienten notwendig. In akuten Notfällen sollte dabei immer ein Krankenhaus aufgesucht oder der Notarzt gerufen werden.

Behandlung & Therapie

Das akute cholinerge Syndrom wird hauptsächlich mit der Gabe von Atropin behandelt. Atropin ist eigentlich ein Gift, welches die Wirkung von Acetylcholin blockiert. Es bindet sich an den muskarinischen Acetylcholinrezeptor und verdrängt somit Acetylcholin von diesem Platz.

Bei einer erheblichen Konzentration von Atropin kommt es zum gegenteiligen anticholinergen Syndrom, welches durch die Blockierung des parasympathischen Nervensystems gekennzeichnet ist. Wenn jedoch die Konzentration von Acetylcholin durch die Hemmung der Acetylcholinesterase erhöht ist, wirkt Atropin als Gegengift und verhindert so die Symptome des akuten cholinergen Syndroms.

Bei den sehr starken phosphororganischen Nervengiften wie Tabun oder Sarin ist die Behandlung oft nicht erfolgreich, weil diese Stoffe irreversibel an das Enzym binden und dieses damit blockieren. Hauptsächlich handelt es sich jedoch um Vergiftungen durch Überdosierung mit cholinerg wirkenden Medikamenten, die wesentlich besser auf die Behandlung mit Atropin ansprechen.

Neben Atropin wird bei Muskelkrämpfen auch der Wirkstoff Midazolam verabreicht. Diese Substanz aus der Gruppe der Benzodiazepine verstärkt die Wirkung des Neurotransmitters Gamma-Aminobuttersäure (GABA). Wenn als Symptom noch eine Azidose auftritt, wird zur Neutralisierung Natriumhydrogenkarbonat verabreicht.

Aussicht & Prognose

Bei diesem Syndrom leiden die Patienten in der Regel an verschiedenen Beschwerden. In den meisten Fällen kommt es dabei zu tränenden Augen und zu einem starken Durchfall. Auch ein erhöhtes Schwitzen und ein erhöhter Speichelfluss zählen zu den gewöhnlichen Symptomen. Weiterhin kann es auch zu Bauchschmerzen und zu einer Benommenheit des Patienten kommen. Die Betroffenen fühlen sich unwohl, müde und krank. Es kommt zu einem Schüttelfrost und nicht selten zu Schwindelgefühlen.

Durch den verringerten Blutdruck kann der Betroffene zudem auch das Bewusstsein verlieren. Dabei kann es durch einen Sturz möglicherweise zu einer Verletzung kommen. Nicht selten kommt es durch dieses Syndrom auch zu einer Bindehautentzündung. In sehr schwerwiegenden Fällen kann es durch die Vergiftung schon nach wenigen Minuten zum Tode des Patienten kommen.

Mit Hilfe von Medikamenten können die Beschwerden dieses Syndroms behandelt werden. Unter Umständen werden allerdings die inneren Organe durch die Vergiftung irreversibel geschädigt. Eine universelle Voraussage über den Krankheitsverlauf ist in diesem Falle nicht möglich. In der Regel kommt es bei einer schnellen Behandlung allerdings nicht zu weiteren Komplikationen und auch nicht zu einer Verringerung der Lebenserwartung.

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Vorbeugung

Zur Vorbeugung vor einem akuten cholinergen Syndrom sollte bei der Gabe von cholinerg wirkenden Arzneimitteln eine Überdosierung vermieden werden.

Nachsorge

In der Regel stehen dem Betroffenen bei diesem Syndrom nur sehr wenige oder sogar gar keine Maßnahmen und Möglichkeiten einer Nachsorge zur Verfügung. Der Betroffene ist dabei in erster Linie auf die schnelle und vor allem frühzeitige Diagnose des Syndroms angewiesen, damit es zu keinen weiteren Komplikationen oder Beschwerden kommt. Nur durch eine frühzeitige Erkennung dieser Krankheit können weitere Beschwerden vermieden werden.

Daher steht im Vordergrund bei diesem Syndrom die frühzeitige Diagnose. Der Betroffene ist bei dieser Krankheit auf die stationäre Behandlung angewiesen, wobei diese in der Regel in einer geschlossenen Anstalt stattfindet. Weiterhin ist der Betroffene häufig auf die Pflege und die Unterstützung durch die eigene Familie oder durch Freunde angewiesen, damit es zu einer Erleichterung im Alltag kommt.

Dabei sind auch intensive und liebevolle Gespräche sehr wichtig, um Depressionen und andere psychische Verstimmungen zu verhindern. Weiterhin ist auch die Einnahme des Gegenmittels notwendig, um die Beschwerden zu lindern. Dabei sollte der Betroffene auf eine richtige Dosierung und auch auf eine regelmäßige Einnahme achten. Ob es durch dieses Syndrom zu einer verringerten Lebenserwartung kommt, kann dabei nicht universell vorhergesagt werden.

Das können Sie selbst tun

Die akute cholinerge Krise stellt einen medizinischen Notfall dar. Der Betroffene oder ein Ersthelfer muss den Notarzt alarmieren und gewährleisten, dass der Arzt umgehend über mögliche Ursachen informiert wird. Sollten die Beschwerden unmittelbar nach der Einnahme von Medikamenten oder etwaigen Giftstoffen auftreten, ist der Arzt darüber zu informieren. Zudem sollte der Patient sich in eine ruhige Rückenlage begeben und sich bis zum Eintreffen der ärztlichen Hilfe nicht bewegen.

Ein künstliches Erbrechen sollte nur unter der Aufsicht eines Fachmanns durchgeführt werden. Bei starken Bauchschmerzen oder Fieber helfe Hausmittel wie kühlende Auflagen oder grüner Tee. Medikamente sollten während einer akuten cholinergen Krise nicht eingenommen werden. Das Leiden bedarf einer stationären Behandlung.

Anschließend sollte sich der Patient schonen und gegebenenfalls auch die Ernährung umstellen, um die Genesung zu fördern. Das auslösende Medikament oder Gift muss ermittelt und gemieden werden. Der Patient sollte sich hierfür an den Arzt wenden und gegebenenfalls auch einen Ernährungsberater einschalten. Sollten sich trotz aller Maßnahmen erneut Anzeichen eines akuten cholinergen Syndroms zeigen, muss der zuständige Arzt umgehend darüber informiert werden.

Quellen

  • Diener, H.-C., Putzki, N.: Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Thieme, Stuttgart 2012
  • Klingelhöfer, J., Berthele, A.: Klinikleitfaden Neurologie. Urban & Fischer, München 2009
  • Renz-Polster, H., Krautzig, S. (Hrsg.): Basislehrbuch Innere Medizin. Urban & Fischer, München 2012

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